Roderich Feldes : Kurzcharakteristik des literarischen Werdegangs
Roderich Feldes
Kurzcharakteristik des literarischen Werdegangs
Ähnlich wie zu der Zeit der Reichsgründung 1870/71 eine politisch wie literarisch höchst fragwürdige Heile-Welt-Ideologie in der damals aufkommenden Dorfgeschichten- und Heimatliteratur Konjunktur hatte, hört man heute angesichts der in atemberaubender Geschwindigkeit sich vollziehenden, sich bis in die kleinsten Alltäglichkeiten auswirkenden Veränderungen des gewohnten Weltbildes allenthalben wieder den Wunsch nach einer überschaubaren, unkomplizierten, identifikationsstiftenden Heimat als Alternative zu einem in seinem kaum zu durchschauenden, vielfältigen Geflecht politischer und vor allem wirtschaftlicher Strukturen bedrohlich wirkenden vereinten Europa.
Roderich Feldes hat als erster deutschsprachiger Schriftsteller erkannt und Konsequenzen für seine literarische Arbeit daraus gezogen, daß ein historisch belasteter Heimatbegriff seiner Verwertbarkeit für falsche Ideologien entzogen werden muß und daher von der Literatur nicht länger tabuisiert werden darf. Bereits heute ist absehbar, daß Feldes als Begründer der jüngeren kritischen Heimatliteratur in die Literaturgeschichte eingehen wird und das uns heute geläufige Selbstverständnis eines „entschlackten“ Verhältnisses zu einem Regionalismusbegriff, der mit geistiger Engstirnigkeit und rückständigem Provinzialismus nur noch wenig gemein hat, literarisch vorbereitet und verbreitet hat.
Für die oberhessische Region ist Feldes darüber hinaus aber noch von besonderem Interesse, weil seine literarischen Texte den Erfahrungshorizont der Menschen in Mittel- und Kleinstädten wie Gießen, Dillenburg, Hungen sowie in den Dörfern des Um- und Hinterlandes angesiedelt hat, doch sind es weniger die geographischen Verortungen der Handlungsräume als vor allem die Sehnsüchte, Konflikte und Eskapaden der von Feldes erfundenen Personen, in denen wir uns wiedererkennen und wiederfinden.
Roderich Feldes, Jahrgang 1946, stammt aus dem Forsthaus von Offdilln und ist sowohl hinsichtlich der sozialen Struktur der Region, in der er aufwuchs, als auch im Hinblick auf die Prägung, die er als Förstersohn in seinem Elternhaus erfuhr, einer charakteristischen Landschaft verbunden, die durch ihren Wasserreichtum, – auf kleinster Fläche entspringen hier Lahn, Eder, Sieg und Dill, – und mit einem unverwechselbaren, aufgrund der in Europa einzigartigen Haubergwirtschaft einmaligen Birken- und Eichenbestand ausgezeichnet ist. Die Konflikte, die dadurch entstehen, daß die moderne Industrie- und Massenkommunikationsgesellschaft auch vor einem solchen scheinbaren paradiesischen Rückzugsgebiet nicht haltmacht, sind die zentrale Thematik der ersten literarischen Arbeiten, beispielsweise in dem Lyrikband haubergsnelken. gedichte von 1968.
Bereits vorher, noch als Schüler am Gymnasium in Dillenburg, hatte er sich schriftstellerisch betätigt, indem er zusammen mit dem ebenfalls als Schriftsteller bekannt gewordenen Gert Loschütz eine literarische Schülerzeitung auf die Beine gestellt hatte.
Die Fächer Germanistik, Philosophie, Linguistik und Volkskunde, die Feldes in Gießen und Frankfurt/M. studierte, deuten die Zielstrebigkeit an, mit der er auf eine Existenz als freier Schriftsteller hinarbeitete, was ihn allerdings nicht daran hindern sollte, auch seine wissenschaftliche Laufbahn als Germanist mit der Promotion zu einem Abschluß zu bringen. Seine Gießener Stunienzeit fand u.a. ihren literarischen Niederschlag in seinem 1980 erschienen Roman Lilar, in dem sich Authentisches und Autobiographisches zur Fiktion verdichtet.
Ähnlich wie dem Ich-Erzähler in Lilar, für den Frankfurt der Ort der intellektuellen Sozialisation wird, gelingt Feldes in der Mainmetropole der Durchbruch als Schriftsteller, und insbesondere als Hör- und Fernsehspielautor sowie mit zahlreichen, in verschiedenen Rundfunkanstalten gesendeten Erzählungen wird er einem breiteren Publikum bekannt. Seine Erzählung „Die Einschnürung“ erhielt 1976 den Georg-Mackensen-Preis für die beste deutsche Kurzgeschichte. Leichthin und subtil schildert Feldes darin eine Situation, die wohl niemand unbekannt ist: Eine Familie, die zur Miete wohnt, wird von den im gleichen Haus wohnenden Eigentümern schikaniert. Worte und Gesten genügen, daß man kaum noch zu atmen wagt.
Feldes‘ letzte größere Arbeit, der mit einem Arbeitsstipendium des Hessischen Ministers für Wissenschaft und Kunst unterstütze Roman Der Wal oder Mama, hörst du mich noch? erschien 1991 in der Edition Literarischer Salon in Gießen. Darin thematisiert Feldes die alte Prophetenerzählung von Jonas, der aus dem Bauch des Wals errettet wird, neu. In Alexander Kamp erfindet der Autor den modernen Jonas, der vor dem Erwachsenwerden flieht und sich immer wieder in seine Jugend und hiermit auch in seine Abhängigkeit flüchtet. Kamp, über dreißig Jahre alt, wohnt in einer Großstadt und arbeitet an seiner Dissertation. Samstags besucht er seine Mutter, eine ehemalige Lehrerin in einem kleinen Dorf, die nach einem Hirnschlag in einem Altersheim lebt, aber über genügend Geld verfügt, um seine Miete und das Auto zu finanzieren. Er gleitet in einen Leerraum und erst der Tod der Mutter ist für ihn die Zeit der Initiation.